Salutogenese
Nun also zu meinem ersten “ernsthaften” Blogthema. Aber womit fange ich überhaupt an?
Als ehemalige Erwachsenenbildnerin sind mir Lernprozesse sehr wichtig, also möchte ich den wichtigsten Lerninhalt meiner Ausbildung zur Med. Masseurin an den Anfang stellen, nämlich die Salutogenese. Sie war für mich prägender als jedes andere Thema, denn man kann alle anderen Lerninhalte quasi in ihrem Licht betrachten und sich so das Lernen vereinfachen. Die Salutogenese hat mir auch geholfen, eine Art Grundeinstellung zum therapeutischen Arbeiten zu finden.
Es war der amerikanische Medizin-Soziologe Aaron Antonovsky (1923-1994), der den Begriff der Salutogenese prägte und damit in der Welt der Medizin so einiges auf den Kopf stellte, indem er nämlich gängige Fragen wie “Was ist Krankheit?” und “Wie heilt man eine Krankheit?” umdrehte und fragte: “Was ist Gesundheit?” und “Wie erhält man Gesundheit?”.
Zuallererst hat Antonovsky mit der Dichotomie “Gesundheit” versus “Krankheit” gebrochen. Für ihn gibt es keinen Zustand der absoluten Gesundheit oder Krankheit, vielmehr sieht er die beiden Begriffe in einem Kontinuum. Ein Beispiel: Tom hat Verspannungskopfschmerzen und zuweilen einen Migräne-Anfall, der ihn zwingt, zuhause zu bleiben. Man könnte jetzt denken: “Er ist krank.” Die Sache ist aber komplexer: Tom hat zwar dieses Problem, er ist aber in medizinischer Behandlung und fühlt sich von seiner Ärztin verstanden, er geht regelmässig in die Massage und für die schlimmen Tage hat er Schmerzmedikamente. Dazu kommt: Tom ist gerade frisch verliebt. Sein ganzer Körper wird von Glückshormonen geflutet und würde man ihn bitten, sich selber zu beschreiben, würde er niemals daraufkommen, sich als “krank” zu bezeichnen. In dem Kontinuum krank-gesund ist seine Position sehr nahe am Pol “gesund”, mit der kleinen Einschränkung, dass er ab und zu einen Tag lang mit Migräne zuhause liegt.
Gesundheit ist also kein absoluter Zustand. Dazu kommt, dass nach Antonovsky die Gesundheit auch kein stabiler Zustand ist, sondern ein Prozess, der ständiger Veränderung ausgesetzt ist. Dies scheint eigentlich selbstverständlich, aber es ist eine Tatsache, dass viele Menschen das auf sich selber bezogen nicht begreifen. Wie viele Patienten behandeln wir täglich, die uns fragen, wieso sie plötzlich Schmerzen haben oder warum eine gewisse Krankheit sie getroffen hat? Hinter solchen Fragen steckt die bewusste oder unbewusste Annahme, Gesundheit sei etwas Gegebenes, Statisches, ja Unveränderliches. Zurück zu unserem Beispiel: wenn Toms Lehrabschlussprüfungen bevorstehen, wird er — stressbedingt — häufiger Kopfschmerzen haben. Trotzdem wird er nicht beschliessen, seine Ausbildung abzubrechen. Eine solche Belastung (bei Antonovsky: ein Stressor) gehört zum Leben. Würde Tom beschliessen, nur noch zuhause im Bett zu liegen, um Stressoren zu vermeiden, würde er früher oder später auch gesundheitliche Probleme bekommen, die zwar nicht auf die Belastung durch eine Prüfung, dafür aber auf seine Bewegungsarmut zurückzuführen wären. Schon nur die Tatsache, dass die Zeit fortschreitet, bedeutet, dass Tom altert und eines Tages mit altersbedingten physiologischen Veränderungen konfrontiert sein wird.
Die Frage ist also weniger, wie man im Kontinuum krank-gesund immer nahe am Pol “gesund” bleiben kann, sondern vielmehr, wie man nach einem gesundheitlichen Problem (einer Position nahe am Pol “krank”) wieder zurück in die Nähe des Pols “gesund” findet. Stressoren werden früher oder später in jedem Leben auftauchen, das ist gar nicht die Frage. Wie wir mit diesen umgehen, bestimmt aber, wie schnell wir uns erholen. Antonovsky hat dazu Menschen untersucht, die extremen Belastungen ausgesetzt waren und ist zum Schluss gekommen, dass die Fähigkeit, sich gegebenen Umständen anzupassen, bestimmt, wie schnell wir uns erholen. “Gesundheit durch Anpassungsfähigkeit” ist daher bei Antonovsky eine zentrale Maxime.
Wie aber kann diese Anpassungsfähigkeit genauer beschrieben werden? Antonovsky prägt dazu den Begriff des Kohärenzgefühls, das wiederum aus drei Komponenten zusammengesetzt ist: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Sind diese drei Komponenten vorhanden, ist es nicht nur einfacher, mit einer Belastung umzugehen, sondern auch präventive Massnahmen zu ergreifen, was dazu führt, dass zukünftige Ausschläge in Richtung des Pols “krank” weniger heftig ausfallen. Zurück zu unserem Beispiel, diesmal geht es um Toms Therapie. Zuerst erkläre ich die Therapie, wie sie eine Masseurin ohne salutogenetischen Ansatz durchführen würde: im Befund hat sie herausgefunden, dass Tom eine Lehre als Coiffeur macht. Im diesem Zusammenhang muss er seine Arme oft in angehonener Stellung halten. Dazu sitzt er zwei Tage pro Woche in der Schule. Diese Kombination aus Belastung und sitzender Körperhaltung führt dazu, dass Toms Schultergürtelmuskulatur belastet ist. Zwar hat er im Verlauf der Jahre viel Muskulatur zugelegt, seine Beweglichkeit hat sich aber reduziert und fasziale Verklebungen am Thorax (ventral sowie dorsal) führen immer wieder zu Schmerzen. Seine Masseurin löst Toms Muskeln regelmässig, was bei ihm zu einer Schmerzreduktion führt. In pathogenetischer Manier hat die Masseurin das Problem erkannt und kurzweilig behoben. Eine echte Verstehbarkeit nach Antonovsky ist dabei aber nicht entstanden. Wenn dieselbe Masseurin nach salutogenetischen Grundsätzen arbeitet, begnügt sie sich nicht damit. Vielmehr erklärt sie Tom, worauf seine Beschwerden zurückzuführen sind und dass er selber auch etwas dazu beitragen kann, solche Belastungen auszugleichen und seine Beweglichkeit zu verbessern. Sie zeigt ihm zwei einfache Dehnungen (dorsal für den M. trapezius pars descendens und ventral für den M. pectoralis major) und gibt ihm damit ein Werkzeug an die Hand, mit welchem Tom sich selber helfen kann. Die Übungen erscheinen Tom einfach und er findet einen Weg, sie in seine Morgenroutine einzubauen, sodass er sie quasi automatisch täglich durchführt. Weil er dafür kein Material kaufen musste, sind sie auch finanziell keine Belastung. Damit hat er für sich Handhabbarkeit erfahren. Hat er erste positive Erfahrungen mit den Übungen gemacht, wird sich die Sinnhaftigkeit der Massnahmen (die dritte Komponente bei Antonovsky’s Kohärenzgefühl) quasi von alleine einstellen. Tom wird eine hohe Motivation haben, die Übungen auch durchzuführen, wenn eine Migräne-Attacke kommt und im besten Fall wird er seinen Schmerzmittelkonsum dadurch reduzieren können. Tom glaubt nun nicht mehr, dass Coiffeure “halt” Nacken- und Verspannungskopfschmerzen haben.
Einen weiteren Stressor, der ihm in Zukunft begegnen könnte (z.B. eine Lumbago) wird er von Anfang an ganz anders einschätzen. Weil er seine Körperwahrnehmung verbessert hat, wird Tom seine Beschwerden als Muskelschmerzen erkennen und davon ausgehen, dass es Methoden gibt, gegen sie vorzugehen. Er sucht seine salutogenetisch orientierte Masseurin auf, wird bei ihr 2-3 Mal mit Triggerpunkt-Therapie behandelt und erhält Übungen zum Dehnen seiner Glutealmuskulatur und seiner Hüftflexoren. Dadurch kann er seine Schmerzen lindern und seine Beweglichkeit ventral und dorsal verbessern. Durch die Erfahrung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit werden im besten Fall nicht nur Toms Kopfschmerzen und Beschwerden am Rücken gelindert, sondern auch sein weiterer Weg positiv beeinflusst werden, denn was Tom über Salutogenese gelernt hat, wird er in Zukunft auch in anderen Lebensbereichen anwenden können. Aus diesem Grund ist die Salutogenese wichtig und hat es verdient, mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Davon bin ich überzeugt und daran möchte ich mich als Therapeutin orientieren.
Es ist meine Erfahrung (als Lehrperson und auch als Schülerin), dass Menschen unglaublich aufnahmefähig sind und in kurzer Zeit wirklich viel lernen können. Leider ist es aber auch meine Erfahrung, dass wir in der Lage sind, neugewonnene Einsichten sehr schnell wieder zu vergessen. Das geschieht nicht aus bösem Willen, sondern weil das Vergessen zum Lernen dazugehört und wir nur durch ständiges Repetieren verhindern können, in alte (oft bequeme und gut akzeptierte) Muster zurückzufallen. Ganz besonders gilt das für die Salutogenese, weil sie sehr vieles grundsätzlich in Frage stellt. Darum habe ich mich dazu entschieden, dieses Thema an den Anfang meines Blogs zu setzen: nicht nur, um Therapeutinnen, die das vielleicht lesen, an das Konzept zu erinnern, sondern auch, um mich selber neu in die Pflicht zu nehmen: jedes Mal, wenn ich zweifle und denke: “Ach, bringt’s das, wenn ich dieser Patientin jetzt noch eine Dehnung zeige oder diesem Patienten den Link zu einer Achtsamkeitswebsite schicke?”, soll ich mich an das Konzept der Salutogenese erinnern und kontern: “Ja, das bringt’s wirklich. Denn mit solchen Massnahmen erreichst du vielleicht, dass Patienten anfangen, selber ins Krankheitsgeschehen einzugreifen. Und genau darum geht es.”
In den folgenden Fallberichten werde ich zeigen, welche schönen Therapieerfolge sich mit einem salutogenetischen Modell erzielen lassen. Auch wenn die Salutogenese ständig droht, in Vergessenheit zu geraten und auch wenn es in unserem Gesundheitssystem rein ökonomisch betrachtet keinen Sinn macht, Patientinnen möglichst kurz zu behandeln und möglichst bald in die Selbstständigkeit zu entlassen: das Konzept funktioniert und ist —bei allen wechselnden Therapietrends, bei allen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen— eine Konstante, die es verdient, im Zentrum unseres Denkens und Handelns zu stehen.
Quellen:
- Antonovsky, Aaron. Unraveling the Mystery of Health : How People Manage Stress and Stay Well. [2nd printing]. San Francisco (Calif.) etc: Jossey-Bass, 1988. Print.
- Bildnachweis: Photo by Rohan Makhecha on Unsplash
PS: Das oben erwähnte Buch zur Salutogenese ist in der UB Hauptbibliothek in Basel ausleihbar — nicht aber in der UB Medizin. Das erste Buch, das Antonovsky über die Salutogenese geschrieben hat (Antonovsky, Aaron. Health, Stress, Coping. Jossey-Bass, 1979), ist in keiner der beiden Bibliohteken auffindbar. So viel zum Stellenwert dieses Autors in der heutigen Wissenschaftslandschaft.